Maskenball. Fragmente eines Unbehagens (2020-2021)
Maskenball. Fragmente eines Unbehagens (2020-2021)
Autor: Gabriele Ziethen
Text | Fiction - Der hier in Fortsetzungsform vorgestellte Text beginnt im Juli des Jahres 2055 und der Ich-Erzähler beschreibt im Rückblick die verstörenden Ereignisse während der sog. „Corona-Pandemie“ ab dem Frühjahr 2020. Doch wählt der Ich-Erzähler eine andere Zeiteinteilung indem er sich für den Kalender der Französischen Republik entschied. Somit beginnen die Texte im Jahr 228 und werden aus dem Rückblick des Jahres 263 kommentiert. Dies hilft dem Ich-Erzähler, eine gewisse Distanz zu den Materialien seines Archives herzustellen.
Die Texte können seitens
der Leser im Rahmen der üblichen Netiquette kommentiert werden..
Photo: Gorgo Medusa. Wasserfarbe und CalligraphyPen. Collage auf farbiger Baumwolle | G. Ziethen 2021
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Zeit | Jahr 263 der Französischen Republik
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- Der Beginn -
263/Thermidor/Décade I, Jour du Primidi
Die
Party war vorüber. Es hatte uns kalt erwischt. Ich entsinne mich einer
pandemischen Überraschung, mit der niemand umzugehen wußte und die
niemand haben wollte. Das ist jetzt lange her und die Zeit danach wurde
zu einer gefährlichen Normalität. Seit jenem Frühjahr 228 kann ich
keines der üblichen Kalenderblätter mehr sehen. Den meisten Menschen ist
kaum bewußt, daß sie täglich in Zeitmustern denken, deren Ursprünge der
Bronze- und Eisenzeit entstammen. Spätestens aber nachdem die
Naturwissenschaften sich auf die Benennung des Anthropozäns verständigt
hatten, war mir klargeworden, daß wir damit begannen, uns von der
Einbindung in die Natur lösend uns über diese und uns selbst zu erheben.
Aber trotz gegenteiliger Behauptungen gelang es auch nicht mehr, diese
geschundene Natur zu reparieren. Das schleichende Gift, das uns kaum
bemerkbar zugesetzt hatte, hieß „Vermassung der Bedürfnisse“.
Vieler
Mittel hatte man sich zum Erreichen dieses fragwürdigen Zieles bedient.
Mit den Körpern wurden damals auch die Köpfe krank, mit denen
Weltsichten verlautbart wurden, die selbst vor Parlamenten nicht
haltmachten. Deswegen hatte ich damals irgendwann begonnen, nach der
Zählung der französischen Republik zu datieren – diese bot einen noch
jungen Kalender und ließ den Ballast der herkömmlichen Feiertage, die
von einer internetabhängigen Gesellschaft sowieso nicht mehr geheiligt
worden waren, hinter sich. Außerdem ließ sich mit diesem Kalender besser
der Lebenstakt der digital gesteuerten post-pandemischen Republiken
beschreiben. Die Woche zu zehn Tagen gerechnet standen in meiner
Vorstellung auch mehr Tage für den seitens der Ökonomen gewünschten
Konsum und zum „Einkaufengehen“ zur Verfügung, sofern überhaupt Geld auf
den elektronisch überwachten Konten aufgebucht worden war.
Das ist
jetzt sehr lange her, fünfunddreißig Jahre sind seitdem vergangen. Ich
habe bereits das Alter meiner Großmütter erreicht, denen neunzig Jahre
und mehr vergönnt waren. Glücklicherweise ist deren gutes
Erinnerungsvermögen und deren Wille zum eigenen Denken auch mir gegeben,
für einen Historiker ein großer Vorteil.
Doch nun brauche ich keine
fremden Archive mehr zu durchsuchen. Mein eigenes über Jahrzehnte
gewachsenes Archiv ist mein Forschungsraum. Es bedarf der Sichtung.
Heute ist ein ruhiger Tag. Ich vertiefe mich in meine Kästen und
Faltordner, auf denen „2020“ steht, eine Zahl, die mich erschrecken
läßt. Vorsichtig öffne ich den Deckel des ersten Kastens …
Ich sehe säuberlich in beschrifteten und datierten Briefumschlägen geordnet eine Anthologie zu Themen der damaligen Zeit …
- Was damals geschah -
228/Mois de Vêntose/Décade II/Jour du Tridi
Die Menschen spürten, daß etwas Ungewisses auf die Gesellschaft zukam. Das konnte man den Informationen der Medien entnehmen, deren Berichte über einen Krankheitsausbruch im fernen Asien berichteten. Gefühlt brachen alte Vorbehalte in den Gemütern auf, dabei hatte man doch die fernen Weltgegenden schon seit Jahrzehnten im Rahmen touristischer Reisen kennengelernt. Wo waren plötzlich die Gewißheiten der Globalisierung? Begann schon jetzt die Vorstellung eines unbegrenzt begehbaren global village zu zerbröckeln? Die Stimmung wurde gereizter im Umgang miteinander, in den Läden, in den Gesprächen und im Straßenverkehr. Auf den Landstraßen und in den überfüllten Innenstädten reihte sich Auto an Auto, der knapp werdende öffentliche Parkraum war schnell zugestellt, die Busse aber waren leer mit Ausnahme der überquellenden täglichen Schülertransporte. Hinzu kamen noch die endlosen Fernsehdebatten über die Themen der Migration und ihrer Ursachen. Sie hatten eine Abneigung gegenüber „dem Fremden“ hervorgerufen, auch hier wurden Ängste, meist materieller Art, geschürt. Im Tagebuch finde ich einen Eintrag, der zeigt, daß selbst Landsleute eine alltägliche Gegebenheit nicht richtig einzuschätzen vermochten: „Mit einem überbordend vollbepackten Einkaufswägelchen, eine Packung Haushaltsrollen unter den Arm geklemmt, trat ich heute den Weg vom Supermarkt nach Hause an. Wegen der unangenehmen Kühle der frühen Abendstunden trug ich eine Wollmütze und war warm verpackt in einen Steppmantel. Ein Unfallgeschehen an einer Straßenkreuzung in der Nähe meiner Straße versperrt mir den Weg. Die Autos stehen kreuz- und quer herum, Lastkraftwagen schlängeln sich gegen die Fahrtrichtung zwischen Verkehrsbaken hindurch, ein Polizist regelt den Verkehr; ich bin der einzige Fußgänger. Wegen der unklaren Verkehrssituation in der Dunkelheit spreche ich den Polizisten freundlich an und frage, ob der Überweg für Fußgänger schon freigeben sei oder ob ich an einer anderen Stelle die Straßen überqueren solle. Abschätzig musterte er mich und rief mir zu ‚Das ist ein freies Land, Sie können laufen, wo Sie wollen‘. Während er das sagte, ging sein Blick mit einem kaum wahrnehmbaren Nicken des Kopfes in Richtung des Flüchtlingsheimes, dessen Gebäude in entgegengesetzter Richtung hinter mir lag. Offenbar hatte er mich mit einem der dortigen Bewohner verwechselt, denn diese tragen auch Steppjacken und Wollmützen, die aus den Kleiderspenden der sozialen Hilfswerke stammen. Damit war mir klargeworden, daß ich in der Gesellschaft der Verunsicherten angekommen war. Eilig ging ich nach Hause und schloß die Tür.“
228/Mois de Vêntose/Décade III/Jour du Primidi — 228/Mois de Geminal/Décade I/Jour du Tridi
Beim Weiterblättern im Tagebuch sehe ich, daß die Einträge dichter wurden, gedrängter in der Zusammenfassung, fast kurzatmig wirkend. Von „medialer und öffentlicher Hysterie“ ist die Rede; irgendein Aktionismus griff um sich. Da sehe ich noch die Notiz „Bildungseinrichtungen beenden den Unterricht“, alle Formen des direkten Unterrichtes wurden abgesagt, weil „soziale Kontakte“ vermieden werden sollen, was auch für die Religionsausübung galt, deren Institutionen sich in eine auffallende Schweigsamkeit hüllten. Das alles wirkt noch zusammenhanglos. Auch wurden Stimmen nicht gehört, die in der „übertriebenen Haustierhaltung“ eine Gefahrenquelle für die Gesundheit der Menschen sahen. Berichterstattungen können kaum noch gezählt werden. Die Angst wegen fehlender Krankenhausbetten und bereits eingetretener Engpässe in der Versorgung mit Hygieneartikeln lassen aufhorchen, der Einzelhandel geriet in Schieflage, weil nur Kettenläden weiter geöffnet haben durften. Weiter wurde vermerkt, „der öffentliche Ton wirke belehrend und bevormundend“. Ein weiterer seltsamer Satz im Tagebuch fällt mir auf: „…wir werden uns darauf einstellen müssen, daß unsere Gesellschaft von der Gier … {nicht lesbar} zerstört werden wird“. Ausgangsbeschränkungen wurden ausgesprochen – Unternehmen stellten „Passier“bescheinigungen aus, die Börsen reagierten unruhig … Dann noch ein paar Zettel mit Notizen über erschreckende Ereignisse in anderen Ländern; das ganze 20. Jahrhundert wird plötzlich aufgestöbert und hochgekocht. Die Sache erhält eine neue Dimension.
Für heute beende ich die Lektüre, ich ahne aber, daß die nächsten Lesestunden nicht erfreulich werden. Aber was ist für einen Historiker schon erfreulich?
228/Mois de Geminal/Décade I/Jour du Nonidi
Eigentlich
habe ich heute keine Lust, mich mit diesem Thema zu beschäftigen. Ich
lege lediglich im Vorübergehen einen Zettel, der aus der
Loseblattsammlung herausgefallen war, in deren Mappe zurück; die Notiz
ist kurz, ein Radiosender habe „vor der Haltung exotischer Tiere in den
Wohnungen gewarnt“, denn „diese Unsitte sei im Zunehmen inbegriffen und
trüge unbekannte Keime in das menschliche Lebensumfeld … Ähnliches hatte
ich doch schon vor ein paar Tagen gelesen. Warum alles nochmal? Eine
erste Spur zum Verstehen?
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229/Mois de Brumaire/Décade I/Jour du Nonidi
Ich finde einen Zeitungsauschnitt, dem ein vergilbter Zettel angeheftet ist. Auf der Zeitungsseite war ein Zitat aus der Freitagsausgabe der FAZ Nr. 253, 30.10.2020, Seite 11 markiert: „Der Wortlaut der Beschlussvorlage über die neuen Einschränkungen des öffentlichen Lebens zum Schutz vor Corona-Infektionen weist den Kultureinrichtungen ihren Platz zu: Theater, Opern und Konzerthäuser werden wie Bordelle, Spielbanken und Wettannahmestellen betrachtet. Was sie anbieten, sind 'Veranstaltungen, die der Unterhaltung dienen'. Sie werden untersagt.“ — Der angeheftete vergilbte Zettel enthält einen Briefentwurf, der offenbar als Leserzuschrift gedacht war. In einem weiteren Hinweis auf eine beiliegende Postausgangsliste fehlt aber der Eintrag. Der Entwurf wurde handschriftlich vorbereitet. Ich halte den Zettel unter meine Leselampe und sehe, daß die damalige Gesellschaft offenbar an der Demontage ihres Kulturlebens arbeitete und litt. Das lesbare Fragment der möglicherweise nicht abgeschickten Lesermeinung lautete: „Die Untersagung von Kulturveranstaltungen in Museen (wie auch in Ihrem Beitrag erwähnt), Theatern, Opern und Konzerthäusern offenbart ein eingeschränktes und ärmliches Kulturverständnis, denn Kultur ist – wie bereits der Arzt und Dramaturg Friedrich Schiller im Mai 1789 mit seiner von aktuellen Krisen (Seuchen, Verarmung) inspirierten Antrittsvorlesung zu Jena thematisierte – nicht nur die Veranstaltung von systemabhängigen „Brotgelehrten“, sondern auch das Arbeitsergebnis des weltgewandten philosophische Kopfes, der in der Lage ist, zu erkennen, zu betrachten, abzuwägen und zu werten, denn Kultur wächst von Menschen getragen in ihrer Gesamtheit und Vielfalt und prägt die Identität, Religion, Moral- und Rechtsauffassung dieser Menschen, was die Folgerung zuläßt, daß die heutige Gleichsetzung entsprechender Berufsgruppen mit der flüchtigen Welt von Wettbüros, Rotlicht-Berufen und Spielbanken die Stumpfheit einer Zockermentalität offenbart, die ihren Weg verloren hat und sich an einer unrealistischen Kreditwirtschaft zur Finanzierung überflüssiger Massenprodukte berauscht – der philosophische Kopf ist nicht die Hure des Systems, denn er weiß, daß diese Kasinomentalität auf lange Sicht nicht systemrelevant ist und somit eine aus ihr resultierende bevormundende Politik keinen Bestand haben wird. Wem das zu kompliziert ist, der lese in Ciceros de re publica die Ausführungen zum Kreislauf der Verfassungen – dort steht, wie es weitergehen kann….“.
229/Mois de Brumaire/Décade II/Jour du Duodi
Und offenbar ging es auf mehreren Ebenen weiter, denn zum gleichen Zeitpunkt wurde ein alter Streit wieder zum Entflammen gebracht, indem man das orchestrierte Unbehagen in den religiösen Raum transportierte und mittels bildlicher und verbaler Einlassungen den Schulunterricht zum Austragungsort machte. Der Eintrag auf der vergilbten Karteikarte in meinen Händen kündet von den unabsehbaren Folgen der allgemeinen Gereiztheit, weil bald alle Seiten nicht mehr wußten, was recht und anständig ist. Das Thema wurde, wie ich weiter las, auf allen Ebenen angegangen: auf der Rückseite der Karteikarte finde ich die Abschrift einer Notiz, die zum Thema in den sozialen Medien veröffentlicht worden war, nachdem man in den Straßen der schönen Städte Europas begonnen hatte, sich gegenseitig umzubringen. Auch die Schüler wurden mithineingezogen und man ließ sie zu ad-hoc Memorialveranstaltungen antreten. Darüber berichteten sogar die Rundfunksender (man fand das irgendwie gut?). Das war neu und wirkt im Verhalten befremdlich und mental gefährlich, weil man solche Pädagogik eher aus dem 1. Drittel des 20. Jahrhunderts kannte. Gut, daß ich in dieser Zeit nicht mehr Schüler war, fuhr mir ein entsetzter Gedanke durch den Kopf, während meine Augen wie gebannt auf die Notiz starrten, die mahnend in den sozialen Medien veröffentlicht worden war: „Zum Nachdenken | Satire ist eine uralte Literaturform seit der Antike (Mittelmeerraum). Sie dient der freien Meinungsäußerung in Wort, Bild und Schrift. Sie hat dort ihre Grenzen, wo der gute Geschmack und der Anstand verletzt werden. Die „M“-Bilder haben deswegen nichts im Schulunterricht zu suchen. Wir sollten freundlicher zueinander sein und uns von den Spaltern nicht verwirren lassen. Wir müssen eine für alle erträgliche Mitte finden.”
Ich finde unter den zahlreichen Antwortschreiben den Papierausdruck einer kleinen elektronischen Grußkarte, die ein Aristoteles-Zitat in Urdu enthält samt der Übersetzung einer pakistanischen Freundin:
„Einst kam ein Mann zu Aristoteles und sagte: ‚Ich habe von einer sehr ehrwürdigen Person Schlechtes über Dich gehört.‘ Aristoteles antwortete: ‚Seit wann sind Lästerer ehrwürdig!‘ — Wenn man also im Jahre 229 im Orient auf die Relevanz der alten griechischen Denker hinwies, denen man in der europäischen Kultur seit Jahren den Wert abzusprechen begann und die Antike als „Looser-Kultur“ bezeichnete, wie man mir — ich erinnere mich gut an jenen Abend — bereits unter dem Eindruck der Finanzkrise des Jahres 217 im Anschluß an einen Vortrag entgegenplärrte, dann legt man entweder diese Zettelwirtschaft ratlos zur Seite oder man gräbt sich weiter durch das Material, um zu den verworrenen europäischen Zusammenhängen vorzudringen.
229/Mois de Brumaire/Décade III/Jour du Nonidi
Ich finde am Boden einer kleinen Kiste eine Schachtel mit Vokabelkarten, aus deren Einträgen hervorgeht, wie die Menschen mittels Sprache und neuer Wortschöpfungen manipuliert wurden. Zu jedem Vokabeleintrag sind Hinweise auf die Fundstelle des jeweiligen Begriffes vermerkt. Daraus geht hervor, daß die Adjektive coronabedingt und coronakonform in zahlreichen Beiträgen überbordend in die Zeitungsseiten gestreut waren. Adjektive sind die Hinzugeworfenen, die das Nomen ergänzenden Begriffe. Damals traten sie als Wort-Viren selbst ihren Infektionszug in die Hirne der Leser an. Das „Eiltempo der Corona-Krise“ benebelte die Sinne, der offizielle Teil der Bevölkerung, also die Gewählten, traten als Mentaldoktoren auf und verdammten jeden Widerspruch. Die vorschnell verabreichte Medizin ihrer neuen offiziellen Gebrauchsanleitungen machte den Menschen Angst. Die Straße wurde zum Therapie-Forum, auf dessen Fläche sich Kräfte bemerkbar machten, gegen die es keine Pillen und Impfstoffe gab.
...
229/Mois de Floréal/Décade
I/Jour du Duodi
Einhergehend mit einer ablehnenden
Haltung kritischer Äußerungen zum Verlauf der gesellschaftlichen Entwicklung
kroch die Unduldsamkeit auch in die Umgebung geistes- und sozialwissenschaftlicher
Positionen. Obwohl diese Fachgebiete per se einer gewissen Streitbarkeit
zuneigen (daß ich daran teilnahm, ist lange her), vermochte nun auch die Öffentlichkeit nicht mehr über den Einzug
unaufgeklärter Verhaltensformen in den Auditorien hinwegzusehen.
Während in den 60er Jahren
des 20. Jhs. das damalige Zeitgeschehen zum Widerspruch herausfordernde Themen
bot, so wurden jetzt auch Teile der Altertumswissenschaften in den Sumpf der
Argumentationskontrolle hineingezogen. Es ging letztendlich nicht um die
begrüßenswerte Eröffnung und Notwendigkeit neuer Forschungsperspektiven,
sondern um deren Einkleidung in ein ideologisch geschnürtes Korsett, das die
Leistungen vorangegangener Generationen für weitgehend obsolet seiend erklärte
und deren Vertreter einem argumentativen Mindscreening unterzogen. Orchestriert
wurde das Ganze mit den manipulativen Eingriffen in die deutsche Sprache.
Während des Aufräumens im
Archivraum (die zwangsweise verhängte Ausgangsperre eignete sich damals sehr
gut, um mit solcherart ungeliebter Arbeit die Abendstunden zu füllen) stieß ich
in einer bis dahin vernachläßigten Regalecke auf einen Karton mit
Sprachgerümpel des Jahres „2021“ der damaligen Zeitrechnung. Ich stülpte den Karton
um und die Wörter verteilten sich auf dem Fußboden. Darunter waren:
Bundschuh
Hosenbund
Bundesamt
Schlüsselbund
Bundesk[-4-]er*in
Ehebund
Bundestrainer*in
Sportbund
Bundesnotbremse (ein Bündel
befremdlich wirkender Paragraphen, die niemand so richtig verstand). Dieses
erhielt irgendwann wohl den KW-Vermerk (Verwaltungsdeutsch: kann wegfallen).
Alles wirkte veraltet und
verströmte den Hauch von oldschool. Am besten den ganzen Vorgang zusammenbinden
für die Rundkorb-Ablage und im Archiv #allesdichtmachen.
Ich verlasse den
staubigen Raum.
229/Mois de Floréal/Décade I/Jour du Octidi
Heute entdeckte ich eine immer wieder kopierte CD-Rom, welche die Datensicherung der Mitteilungen in sozialen Netzwerken enthielt.
Ein seltsames Individuum
trieb damals seinen Schabernack mit den verwirrten Gemütern. Die Theater blieben
weiterhin geschlossen, und so wurden Millionen Menschen im Lande zu Hauptdarstellern
und Komparsen ihres eigenen Schicksals. Das Zauberwort lautete persona. Es bedeutet Maske. Diese ließ
uns nicht mehr los, denn das Wort bedeutet auch Schauspieler. Und letztendlich
lebt die kluge Beobachtungsgabe unserer römischen Kulturtradition noch im Wort Person
fort. Man merkt sich Masken besser als Gesichter, man schenkt der Unbeweglichkeit
ihrer Physiognomie mehr Aufmerksamkeit, man hört eher auf das gesprochen Wort,
das der Maske entströmt. Und so hatten sich namhafte Vertreter der Schauspielkunst
zusammengefunden, um gegen die Einkürzung der Freiheitsrechte zu protestieren.
Das Internet gab eine wunderbare Bühne für das Stück #allesdichtmachen. Umgehend
bezogen die wackeren Mimen Schelte und digitale Dresche, weil sie den Nerv der
Zeit und die Befindlichkeit der öffentlich Verantwortlichen getroffen hatten.
Diesem Fragment der
Notizsammlung, das damals offenbar der Mitteilung in den sozialen Netzwerken
diente (und deswegen auch archiviert worden war), war eine handschriftliche
Marginalie beigefügt, noch lesbar: „Warum wird unseren Künstlern nicht das
Freiheitsrecht zugebilligt, wofür man gerade die Künstler in Frankreich lobt.
Eine Gesellschaft, die das nicht erträgt, sollte sich per Bundesnotbremse in
der Abstellkammer der Geschichte verbarrikadieren".
Die Pandemie hatte uns
alle zu Schauspielern werden lassen? Wir heuchelten Teilnahme, wo uns die Statistiken
schon nicht mehr so ganz interessierten. Es gab Zeitungsseiten, die man zunehmend
überblätterte, weil sich der Verstand gegen die Mischung aus Kampf- und
Sakralrhetorik sträubte.
Heute beginnt das
Frühjahrsaufräumen. Es ist ein schöner warmer Tag. Ich trage einen
orientalischen Hosenanzug und fühle mich wohl und motiviert. Während des
Ordnens meiner Stoffsammlung stoße ich auf eine Schachtel mit Kopfbedeckungen.
Turbane, Kuwait-Hijabs und Bonés in allen Farben und Formen. Ich trug sie oft
passend zu den Tuniken und Shalwar Kameez-Anzügen während meiner Reisen. Zu
besonderen Anlässen gerne auch eine Abaja – black, versteht sich, mit
wertvoller Stickerei. Man hat in dieser Kleidung einfach mehr Bewegungsfreiheit
und sie wirkt nur, wenn man sich gerade und aufrecht hält. Zahlreiche schöne
Tücher samt passendem Schmuck erhielt ich auch zum Geschenk. Ich trug sie alle
zu verschiedenen Anlässen. Nicht nur im Ausland, auch hier in Deutschland.
Muslimische Freundinnen sind großzügig. Diese Erkenntnis half auch mir in der
Mitte meines Lebens, endlich meine manchmal an Geiz grenzende Sparsamkeit in
etwas vornehmere, spendable Bahnen zu lenken.
Um so mehr erinnere ich
mich plötzlich eines Themas, das mich noch heute, nach so langer Zeit, in eine
gewisse Aufregung versetzt und zu dem ich damals vorwiegend in persönlichen
Gesprächen und über die digitalen sozialen Netzwerke diskutierte. Warum ging
es?
Die allgemeine Aufregung
bestand darin, daß nach Jahrzehnten der Entschlußlosigkeit Bekleidungsrichtlinien
für das äußere Erscheinungsbild für Beamte erlassen werden sollten. Ein entsprechendes
Gesetzesvorhaben wurde auffallend schnell durch die beschlußfassenden Gremien
durchgewunken und rief einen Sturm der Entrüstung hervor, besonders bei
Kopftuch/Hijab tragenden muslimischen Frauen, die auf dem Weg ins Referendariat
in Schule und Justiz waren. Abgesehen davon, daß die Gesellschaft das Wissen
aller gut ausgebildeten Fachkräfte der jüngeren Generation brauchte, war es
also unverständlich, weshalb man sich plötzlich wieder am Kopftuch festbiß; der
gebetsmühlenartig geführte Diskurs um religiöse Symbole oder modische
Accessoires wurde wieder hochgekocht. Doch verkannte man, daß die Gesellschaft
pluralistischer geworden war und es keine sonderliche Zustimmung fand, Maßstäbe
einer vergangenen Epoche nationaler Uniformität im eigenen Erscheinungsbild zu
figurieren. Folglich ging es in den digitalen sozialen Netzwerken hoch her, es
wurde eine Petition eingereicht (die ich damals auch unterstützte).
Aus Sicht der
Geschichtswissenschaft sah und sehe ich es immer noch für unsinnig an, wenn
sehenden Auges mittels Bekleidungsvorschriften die Gesellschaft gespalten wird.
Warum will niemand hören, daß der Anteil muslimischer Frauen unter den
Akademikern und in qualifizierten Berufen steigt. Putzfrau war gestern.
Außerdem fällt mir aus der Perspektive meines Faches der Alten
Geschichte/Archäologie auf, daß in zunehmendem Maße auch dem geistigen
Austausch Westeuropas mit dem Mittelmeerraum die Relevanz abgesprochen wird.
Seit der Zeit der antiken Kulturen haben wir Anregendes und Kontroverses
ausgetauscht. In den Schulbüchern wir das auch nicht mehr vermittelt. Phobien
sind das Produkt der Uninformiertheit. Europa ist seit Jahrtausenden das
Produkt von Migration. Aufklärung bedeutet auch, daß es multipolare Standpunkte
gibt. Warum sollen andere Kulturauffassungen unsichtbar gemacht werden? Wer
hinter dem Ofen sitzt, kann das nicht sehen. Spaltung ist die Folge. Oder kennt
etwa der abendländische „Zensor“ Teile seines kulturellen Ursprungs nicht mehr?
Ich lege die bunten
Stoffe zur Seite und gehe in die Bibliothek, um die Bände zum Themen Kultur der
Kleidung/Tracht/Mode durchzusehen. Fast schon wie erwartet steckt im Einband
eines kulturgeschichtlichen Bandes der vergilbte Papierausdruck eines Textes. Ich
schrieb damals in einem online Post: „Liebe
Damen, die strengen Vorschriften für die Bekleidung von Frauen
(Ganzkörperverhüllung samt Kopfbedeckung) sind in den Schriften christlicher
Bischöfe des 4.Jhs. u.Z. belegt. Kopfbedeckung für Männer und Frauen sind schon
lange vor Muhamad im Bereich der Religionsausübung bekannt. Dazu gibt es
umfangreiche althistorische und archäologische Studien. – Die muslimischen
Frauen haben also keinen Grund, sich ständig rechtfertigen zu müssen. Das
Problem ist, daß bei vielen Menschen das Wissen um die Kulturen des
Mittelmerraumes und seiner östlichen Nachbarn zu gering ist. Der Diskurs müßte
nicht geführt werden, wenn das Wissen um die Zusammenhänge größer wäre. – Und
letztendlich weiß jede Frau selbst, was für ihr Leben und für ihre
Selbstdarstellung angemessen ist.“
Mit dem Buch in der Hand,
gehe ich langsam in die Küche und bereite mir einen türkischen Tee zu. Der Duft
läßt mich an jene schönen Stunden mit meinen türkischen Freundinnen denken,
deren Warmherzigkeit mir eine neue Dimension von Freundschaft und Gastlichkeit
erschloß. Und ich erinnere mich auch an jene pastellfarbenen Tage in Kairo, als
ich mich zusammen mit meinen ägyptischen Kolleginnen und Freundinnen im
Anschluß an unsere Vorlesungen ausgehfein machte und wir die Kopfbedeckungen
farblich aufeinander abstimmten. Wie bunte Blumen saßen wir in den Cafés am Nil
und erfreuten uns an der Schönheit des Daseins, und wir malten uns die Zukunft
unserer Studentinnen und Studenten aus, deren Geist wir für eine offene Haltung
gegenüber anderen Kulturen empfänglich zu machen hofften.
Daß indes die
Gesellschaft meines eigenen Herkunftslandes Nachhilfe nötig haben könnte, hätte
damals niemand von uns gedacht. Wenn unsere gerontokratische Gesellschaft nicht
versteht, daß die junge Generation mit kopftuchtragenden Lehrerinnen und
Erzieherinnen kein Problem hat, dann wurde da etwas verpaßt. Jede Frau soll
sich kleiden, wie sie will.
229/Mois de Floréal/Décade
III/Jour du Nonidi
Die Themen und Vorgehensweisen der gesellschaftlichen, öffentlichen Meinungsbildung sind ein aufschlußreicher Gradmesser für den Zustand einer Demokratie. Seit meiner Schulzeit legte ich zu bestimmten Sachgebieten Pressemappen an. Das war eine interessante Beschäftigung, weil in unserem Haushalt immer zwei Tageszeitungen abonniert waren, eine regionale und eine internationale Ausgabe gängiger Pressehäuser. Darüber hinaus war es üblich, am Sonntag der Familienlektüre, auf welche die Eltern sehr viel Wert legten, noch die Wochenendausgaben zweier internationaler Blätter hinzuzufügen. So wurde ich schon früh in der Fähigkeit multipolarer Informationsbeschaffung geübt und hatte dann später im Beruf nie Probleme mit der Erstellung von Pressespiegeln. Auch die Pressevorlagen für die Öffentlichkeitsarbeit meiner eigenen Projekte schrieb ich grundsätzlich selbst.
Mit um so größerer Aufmerksamkeit
schlug ich nun eine Faltmappe im DIN A2 Format auf, die verschiedene Artikel
zum Thema Demokratie enthielt. Laut Aufschrift erstreckte sich das von der Lektüre
der Staatswerke Ciceros angeregte Interesse an diesem Thema über den Zeitraum
vieler Jahre.
Was ich nun in der vor mir
liegenden Mappe zu sehen bekam, ließ mich bald erkennen, daß der Zustand
unserer heutigen als demokratisch bezeichneten Grundauffassung in der Zeit der
20er Jahre des 21. Jahrhunderts einem bemerkenswerten Wandel zu unterliegen
begann, da man sich während der gestreßten Situation eines kreditfinanzierten „Lockdowns“
nicht durchzuringen vermochte, die Rechtfertigungsaxiome des „20. Jahrhunderts“
der aktuellen Zeit anzupassen. Stattdessen wurden immer wieder Argumente vorgelegt,
die bereits ihren hundertjährigen Geburtstag hinter sich hatten und von denen
sich die Jugend zu distanzieren begann, weil ihre Urgroßeltern in ganz anderen
Weltgegenden und anderen kulturellen Zusammenhängen geboren worden waren. Das hieß
aber auch, daß zum jetzigen Zeitpunkt des Jahres 264 viele die damaligen Radioansprachen,
und die zeitüberdauernden Mahnungen Thomas Manns schon gar nicht mehr, nicht mehr
verstehen. Trotzdem gab man sich dem Trugschluß hin, daß die junge Generation
in ihrer polyethnischen HerkunftsGesamtheit
hinter den aus den Kriegen des „20. Jahrhunderts“ resultierenden
Verpflichtungen stünde. Eher das Gegenteil war der Fall. Die Jugend ging auf
die Straße und demonstrierte mit Verve für oder gegen Ereignisse in den Ländern
der Herkunft ihrer Urgroßeltern. Dabei lernte man so ganz nebenbei die Folgen
von weitzurückreichenden Verbrechen und Konflikten kennen, die ohne formalen Abschluß
und befeuert von parastaatlichen Organisationen durch die Zeiten und Herzen weiterglommen,
Brandnester in den Köpfen entzündeten und die Hände zu den Waffen greifen
ließen. Daraus resultierte dann bei vielen die Auffassung, daß manche Demokratien
die Anliegen der Menschen mit unterschiedlichem Maß behandelten. In den
Zeitungen wurde klug darüber recherchiert und die Hintergründe wurden beschrieben,
doch im Internet tobte der Bär. Hier pulsten die Emotionen der Völker, Gruppen
und Follower. Hier wurde die Straße digital und steuerte wiederum die Straße
zwischen dem Hier und Anderswo. Im Internet gibt es keine Distanz zum Geschehen.
Das meistgelikte Photo berechtigte zum Anmelden der nächsten Demo, auch wenn
das Thema derselben tausende von Kilometern entfernt war. Das Internet schuf Räume
eines neu verstanden Agitprops, das
diesmal grün anstelle des ursprünglichen Rot daherkam. Und es war Wahlkampf.
Leute in späten Lebensjahrzehnten waren unter den Dauerbewerbern um die
höchsten Ämter. Die Farblosen unter den Jungen waren ihre Follower. Und
allmählich begann sich der Blick wieder brauntrübe einzufärben. Man zeigte sich
beunruhigt.
229/Mois de Prairial/Décade
I/Jour du Quintidi
Vor 35 Jahren schrieb ich im Frühjahr 229 wohlmeinend einem jungen Menschen anläßlich seiner Volljährigkeit eine schöne Grußkarte. Der Entwurf ist noch erhalten und befand sich als Buchzeichen in einem Ratgeber zum Thema „Prävention“. Ich stehe mit diesem Menschen noch in Verbindung. Ich beobachtete seinen Werdegang. Alles zeittypisch, wenig Herausragendes, eine jener beratungsresistenten Karrieren, die man glücklicherweise selbst nicht leben mußte.
Eigentlich einst in eine gute Gesellschaft hineingeboren entwickelte der Säugling sich altersgerecht und war auch bei der Taufe ein süßer Täufling im Taufkleidchen. Hier gab es nichts zu kritisieren. Als Hänfling wurde er schon früh von der Mutter verzärtelt, die ihm keine Grenzen zu setzen verstand und seine zarten Beinchen mit Marken-Füßlingen vor den Stolpersteinen des Lebens zu bewahren suchte. Doch dem heranreifenden Zögling brach sich eine gewisse Aufsässigkeit Bahn. Ging es aber wirklich zur Sache, dann war er ein Schwächling und Feigling, der lieber Brätlinge an der Bude mampfte. Der Vater versagte da auch in der Erziehung. Nun sollte irgendwann der angehende Jungbürger etwas lernen. Da die Schulnoten mäßig waren, riet ich von einem Studium ab (auch um die Nerven meiner Kollegen zu schonen) und der Annahme einer Lehre zu. Der dauermüde Lehrling lernte in der Werkhalle ein Dasein kennen, das ihn kaum von den Rohlingen, Preßlingen und Fittingen seiner Werkbank unterschied. Er verstand, daß er keine Chance haben werde, wenn er nicht endlich die Ursachen seiner nicht zufriedenstellenden Existenz zu bekämpfen vermochte. Doch er blieb antriebslos und begann in den Straßen herumzulungern, versäumte das Lernen und looste als Prüfling. Der Vater warf ihn raus, die Mutter steckte ihm heimlich Geld zu. Und dann kam die „Pandemie“ seines Lebens. Das Arbeitsamt schickte ihn zwecks besserer Vermittlungschancen zum Impfen. Der Termin wurde verschoben. Und wieder waren andere schuld, weil er selbst nicht erkennen konnte, wie durchsetzungsschwach er war. Irgendwann schlug er übellaunig einen Flüchtling. Der Impfling wurde zum Sträfling. – Bis heute ist er unkultiviert, er weiß nichts, willenschwach war er schon immer, bildungsschwach aus Faulheit sowieso, ich halte ihn nur für bedingt geschäftsfähig. Sein ganzes Leben lang blieb er in weisungsgebundenen Umständen. Ein kindisch gefährliches Gemüt. Man weiß nicht, was er als nächstes anstellen wird. Ich schrieb ihm wieder eine Karte und schlug ihm vor, daß es sehr verdienstvoll sein werde, wenn er sich allmählich dazu bequemte, sich um seine alten Eltern kümmern zu wollen. Da er keine Geschwister habe, müsse er auch nicht teilen, habe aber die Pflicht, endlich ein Mindestmaß an Verantwortung zu übernehmen. Deswegen sei es klug, sich rechtzeitig um das Erbe verdient zu machen, das ihm immerhin in den sicherlich noch auftretenden Stürmen des Lebens ein angenehmes Zubrot verspräche. Für ein neues Smartphon werde es da schon reichen. Dann könne er wenigstens zum Häuptling seiner Follower avancieren. Für den Rat bedankte er sich auf Twitter mit einem freundlichen Emoji. Eine Ahnung von Anstand hatte er immerhin.
*** Fortsetzung folgt ***
[Version: 27.05.2021]
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